Foto: Martina Gasser


BIZARRE. Die Bildwelten der Martina Gasser.
Text ©  Marlene Gölz, 2011

1998 projiziert Martina Gasser in einer Performance, deren einzige Zeugin die Kamera ist, ihren 100-fach vergrößerten Fingerabdruck einer Daumenkuppe auf sich selbst. Gleich einem Tarnmuster lässt das scheinbar untrügerische Beweismittel und Symbol für Individualität  Formationen entstehen, die Gassers Gesicht und Körper, schlichtweg ihre Identität wenn nicht auflösen so doch eigenwillig deformieren. Die entstandene Fotoserie in Schwarz-Weiß trägt den Titel „Dactyl Marritime“, spielt auf Berührung und Dichtung an, und verrät die multimediale Tätigkeit der Künstlerin.
Will man Kategorien nennen, so ist Martina Gasser Malerin, Fotografin, Musikerin im Dunstkreis von Theater und Literatur, getragen von der Sympathie für  russische Avantgarde und französische Bohème. Sie arbeitet an Schnittstellen, hat „Ein versägtes Dramolett“ („LAUTSÄGEN“) mitgestaltet und den letzten Auftritt des Ausnahmetänzers Vaslav Nijinsky interpretiert (Installation, Fotoserie, 2009), ist als DJ Marritime aufgetreten, fotografiert Baustellen, Straßenszenen und KünstlerInnen, spielt Singende Säge und malt, ungewohnt kräftig.
Als Äquivalent zum Fingerabdruck gilt in der Malerei der unverwechselbare, die Persönlichkeit zum Ausdruck bringende Pinselstrich – den allerdings sucht man auf vielen Gemälden der Künstlerin vergeblich. Ihren vergrößerten Fingerprint projiziert Gasser nicht nur sondern bannt diesen auch penibel glatt auf Leinwand, wodurch sie nicht nur die scheinbare Spontaneität, mit der ein solcher Abdruck hinterlassen wird, karikiert, sondern auch die Beweisführung der künstlerischen Urheberschaft. Die Ironie ähnelt jener der „Brush-Strokes“ Serie Roy Lichtensteins: das Bildthema, der expressive, individuelle Pinselstrich, kommt bei ihm im glatten Comic-Stil daher. Gassers Fingerprints sind in grellen Farben in die Leinwand eingeschrieben, gleich einem gepflügten Acker mutieren ihre Papillarlinien zu emotional besetzten Landscapes.
Die mittlerweile mehr als zehn Jahre zurückliegenden Performances „Dactyl Marritime“ und „Labyr Marritime“ sind für Gassers Oeuvre wegweisend. Das auf den Körper projizierte zweidimensionale Muster (Daumenabdruck bzw. Einweglabyrinth) bindet diesen an die Fläche – die resultierende Wechselwirkung von Oberfläche und Tiefe, Formgebung und- auflösung kommt in beinahe allen ihren Gemälden zum Tragen, ebenso das Prinzip der Verzerrung – zunächst ist damit eine formale gemeint: manieristisch gedehnte und verwinkelte Figuren, die in ihren Konturen irgendwann jedoch statischer und reglementierter ausfallen. Die verstörende Abweichung verlagert sich in Folge auf den mimischen Ausdruck, aktuell konzentriert sich die Künstlerin in ihren „Portraits bizarres“ erstmals auf Gesichter.
Die konturierende bzw. Flächen gestaltende Linie verrät einiges über Gassers Blick und künstlerischen Zugang. Schwarze Stege sind es, welche Figuren und Hintergrund in vielen ihrer Gemälde ebenso ausformulieren wie zerschneiden, als Objekt ausbilden oder in die Fläche zurückholen. Das geometrische Gestaltungsprinzip entspricht den Stilmitteln des Konstruktivismus, dessen früher Vertreter Alexander M. Rodtschenko einem in den Sinn kommen mag, verbindet Martina Gasser mit ihm doch die Fotografie. In ihrem Schnappschuss (!) „Schwarzes Licht“ findet sich - ein gefundener Zufall - Rodtschenkos „Spatial Construction“, ungewöhnliche Perspektiven ihrer Baustellenfotos Mitte der 1990er-Jahre erinnern ebenso an den russischen Künstler. Abgesehen einzelner Fotos aber ist es die stets etwas einsame Stimmung, die leichte Melancholie und dunkle Romantik, welche die Schwarz-Weiß-Aufnahmen Gassers ausmachen und manchmal, um uns in die Irre zu führen, an Früheres erinnern was im Eigentlichen das Jetzt ist. Gassers Sensibilität und ihr Reagieren auf Raumsituationen und Personen zeigt sich auch in der Auftragsarbeit der KünstlerInnenporträts. Menschen, zu denen sie keinerlei persönliche Verbindung hat, gewährten ihr für den Augenblick einer Aufnahme Einblick in deren Schaffen. Das Resultat sind aussagestarke aber einfühlsame Portraits im Atelier, Arrangements, welche die Dreiecksbeziehung KünstlerIn – Werk – Fotografin für die BetrachterInnen bannen.
Auch in Martina Gassers Gemälden ist das Verhältnis von Figur und Setting entscheidend, wechselt die konzentrierte Spannung der Linie mit ausgetüftelter geometrischer Harmonie, trifft ihr ebenso strenger Zugang auf einen sehr poetischen. Manchmal – wie in den „Drei Furien“, antike Rachegöttinnen und eigenwillig deformierte Schönheiten in eleganter Pose auf einem Triptychon aus Gassers Zeit an der Akademie, wird mittels gemalter Textilien wie Polstern oder Vorhängen Raum definiert bzw. eine Bühne angedeutet, dann wieder - siehe „EXIT“ - entsteigen die Figuren dem sie selbst definierenden Raster.
Eine ebenso große Rolle wie die geometrische Konstruktion spielt die Farbgebung in Gassers Werk. In den Jahren 2003 bis 2005 setzt sich die Künstlerin intensiv mit Farbwahrnehmung auseinander, die Bilder „Schwarzes Licht“, „Rubinblau“, „Saharagrün“ und „Elephantenrot“ entstehen: schwarz konturierte, farbig monochrom gefüllte Felder. Danach treten wieder vermehrt anonymisierte Figuren auf. Während sich Gassers frühe Behandlung menschlicher Körper durch manieristisch-expressive Posen auszeichnet wie „Jakobs Traum“ (2000), sind es zunehmend Silhouetten, welche die neueren Bildwelten bestimmen. So in „Polizid“ (2004), „O.T. (Tanzen)“ (2005) oder der gemalten Version einer Aufnahme in einer U-Bahn Station, „21:05 12 20 27 35 42 50 57“ (2006). Ein Gemälde übrigens, das dem Medium der digitalen Bearbeitung trotzt, wie schon zuvor manche Werke („Moskau“, 2003) der Drucktechnik von Plakaten.
Doch auch explizit Malerisches findet sich im breit gefächerten Werkkomplex, „Testosteron Schock“ nannte die Künstlerin 2006 selbst einen „Befreiungsschlag“, der sich im triefend nassen Gefieder eines Huhnes äußert. Dieser führt sie zu den jüngst entstandenen Bildern. „Portraits bizarres“ nennt Martina Gasser eine Serie von vier, ungewohnt expressiven Gemälden. Bizarr - seltsam, wunderlich, geht auf „bizzarro“ (ital.) zurück, das soviel bedeutet wie „von absonderlicher Form, Gestalt“, und es ist dieses „bizzarro“, das sich wie ein Leitfaden durch ihr gesamtes Oeuvre windet. Fotografien, teils gefundene, dienen als Vorlage für die verstörenden, skurril ausformulierten Gesichter: Eine Rimini-Touristin der 1960er-Jahre erhebt teuflisch grinsend ihre Flasche, eine schwarze Albina fesselt eindringlich den Blick der BetrachterIn. Mittels eines Selbstportraits in Frontalansicht, aufgerissenem Mund und Augen als würde sie Achterbahn fahren oder aus einem Traum gerissen, ordnet sich die Künstlerin selbst in die bizarre Reihe ein. Mit Erstaunen und Schrecken in die Welt geworfen und auf diese blickend: Einmal mehr sind es die Verzerrungen, die inhaltlichen wie optischen Infragestellungen trügerischer Oberflächen, welche Gassers Bildwelten ausmachen, ein Oszillieren zwischen Oberfläche und Tiefgang schließlich, das in grotesker Weise Pop Art und Surrealismus vereint: androgyn, anmutig, fratzenhaft, schauerlich und witzig.



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